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Objekt: Figurine, Ton, 44 x 8,2 cm.
Datierung: Persische Zeit (500-400).
Herkunft: Phönizien (vor der Küste aus dem Meer).
Sammlung: Fribourg, Sammlungen BIBEL+ORIENT, VFig 1998.10.
Darstellung: Die Vorderseite der Figur ist aus einer Form gepresst, die Rückseite und wahrscheinlich auch die beiden Sockel sind von Hand hinzugefügt. Der große Sockel ist unten offen und hohl, seine Wände sind 10-12 mm dick, ein rundes Loch von ca. 10 mm Durchmesser verbindet diesen Hohlraum mit dem wahrscheinlich ebenfalls hohlen, kleineren Sockel und dem Inneren der Figur. Die Frau mit segnend erhobener Rechten und Kind in der Linken steht auf zwei aufeinandergestellten Sockeln und wird so als Göttin inszeniert. Die Ecken des unteren Sockels bilden unten vier «Füße». Oben wird er von einem vorkragenden «Dach» abgeschlossen und imitiert so wahrscheinlich einen Tempelbau. Auf dem hinteren Teil dieses unteren Sockels erhebt sich ein zweiter kleinerer rechteckiger Sockel, dessen ganze Oberseite von den Füßen und dem Kleid(?) der Göttin eingenommen wird. Es ist nicht ganz klar, wie weit sie nackt und wie weit sie bekleidet ist. Vielleicht ist sie in ein feines, nach ägyptischer Manier eng anliegendes Gewand gehüllt gedacht. Die Füße mit den Zehen und die langen Beine mit den nur sehr schwach angedeuteten Knien sind jedenfalls fast bis zum Bauchansatz zu sehen. Die starke Wölbung des Bauches und die nach oben verschobenen, nicht sehr betonten Brüste verraten eine fortgeschrittene Schwangerschaft. Auf der höchsten Wölbung des Bauches liegt ein Gürtel mit einem Knoten, von dem zwei Schleifen in die Schamgegend fallen. Dieser «Isisknoten» ist von der gleichnamigen ägyptischen Göttin übernommen. Der obere Teil der Oberschenkel ist von Stofffalten bedeckt, die unter den Oberarmen hervorquellen und die unteren Enden (einen Teil) des langen Schleiers darzustellen scheinen, der über dem Kopf liegt. Der rechte Unterarm ist steil angewinkelt und vollführt mit der nach vorn offenen Hand, deren Daumen und Finger deutlich zu sehen sind, einen Segensgestus. Vom linken Arm ist nur die Hand zu sehen. Sie hält das dem Betrachter bzw. der Betrachterin zugewandte Kind. Die Füße des Kindes liegen auf dem «Isisknoten». Zwischen Daumen und Zeigfinger der linken Hand der Frau ist die linke Hand des Kindes zu sehen. Seine Rechte liegt auf seiner Brust und scheint etwas zu halten. Der breite flache Hals der Göttin wird von zwei Haarsträhnen eingerahmt, die die Ohren der Göttin freilassen. Das rechte Ohr ist erheblich größer als das linke (21 statt 12 mm) und soll – über der segnenden Hand gelegen – wohl die Bereitschaft der Göttin signalisieren, Gebete zu erhören. Das fein gearbeitete Gesicht mit dem etwas nach unten hängenden Mund, den vom oberen Ende der Nase ausgehenden eleganten Bogen der Augenbrauen und den großen, darunter liegenden Augen erweckt den Eindruck, ernst und konzentriert auf den Verehrer bzw. die Verehrerin hinunterzublicken. Beim breiten Band, das die Stirne nach oben begrenzt, ist nicht klar, ob es sich um den Ansatz der Haare handelt, die als Strähnen das Gesicht einrahmen, oder um eine Art Stirnband.
Diskussion: Die Fundumstände der Figuren dieses Typs erlauben keinen Schluss auf ihre Funktion. Da es sich aber eindeutig um die Darstellung einer Göttin handelt, dürfte sie als Abbild eines berühmten Kultbilds zu verstehen sein, das entweder im Familienkult in Privathäusern verwendet wurde oder mit der Bitte um Erhörung für gute Schwangerschaft und Geburt in ein Heiligtum gestiftet wurde.
Die Parallele aus Nabaa bei Tyrus hat auf dem Sockel das Zeichen der phönizischen Göttin Tanit (zu diesem vgl. Bertrandy 1992; Keel 1997b: Achsib Nr. 11; Akko Nr. 13). Unter dem Namen Tanit oder Tinnit wurde die große Astarte von Tyrus in den phönizischen Kolonien im westlichen Mittelmeer verehrt. Der Name bedeutet ursprünglich vielleicht «Klagefrau». Sie heißt nicht selten «Klagefrau vor Ba˓al» ( Lipiński 1992: 438). Sie hatte in diesem Falle wohl eine ähnliche Funktion Ba˓al gegenüber gespielt wie Isis gegenüber Osiris. Wie bei allen grossen Göttinnen sind zu diesem als ursprünglich vermuteten Aspekt der Klagefrau auch bei Tanit weitere hinzugetreten: Die kämpferische Jungfrau, die sorgende Mutter, die Himmelsherrin und viele andere ( Müller 2004a: 141*-151*). Zum Aufkommen solcher von ihren familiären Banden und Aufgaben bestimmten Göttinnen vgl. den Kommentar nach Keel/Schroer 2004: Nr. 174.
Bertrandy 1992: Bertrandy F., 1992, «Signe de Tanit», in: Lipiński É., éd., Dictionnaire de la civilisation phénicienne et punique, Turnhout, 416-418.
Keel 1997b: Keel O., 1997b, Corpus der Stempelsiegel-Amulette aus Palästina/Israel. Von den Anfängen bis zur Perserzeit. Katalog Band I: Von Tell Abu Faraǧ bis ˓Atlit. With Three Contributions by Baruch Brandl (OBO.SA 13), Freiburg Schweiz/Göttingen.
Keel/Schroer 2004: Keel O./Schroer S., 2004, ²2006, ³2010, Eva - Mutter alles Lebendigen. Frauen- und Göttinnenidole aus dem Alten Orient, Freiburg Schweiz.
Lipiński 1992: Lipiński É., 1992, Tanit, in: Lipiński É., éd., Dictionnaire de la civilisation phénicienne et punique, Turnhout, 438-439.
Müller 2004a: Müller H.-P., 2004a, Beobachtungen zur Göttin Tinnit und der Funktion ihrer Verehrung, in: Heltzer M./Malul M., eds., Studies in the Bible and the Ancient Near East, in Hebrew and Semitic Languages. Festschrift presented to Prof. Yitzhak Avishur on the Occasion of his 65th Birthday, Tel Aviv/Jaffa, 141*-151*.
Parallelen: Nunn 2000: 68, Typ 35a; Bordreuil/Briquel/Gubel 1999: 243f, fig. 3c: Nabaa bei Tyrus; Culican 1969: 38, tablet 2, 41-44, pls. 2-4: sehr ähnliche Figur, statt des Kindes hält sie mit Daumen und Zeigfinger die Brustwarze der linken Brust - aus dem Meer bei Tyrus; Linder 1973a: 182-187: zahlreiche Parallelen wurden in der Ladung eines phönizischen Schiffes gefunden, der vor bald 30 Jahren gemachte Fund ist leider nur höchst unzureichend dokumentier - vor der Küste von Schawe Zion, 5 km nördlich von Akko, 5. Jh.
Bordreuil/Briquel/Gubel 1999: Bordreuil P./Briquel Chatonnet F./Gubel E., 1999, Bulletin d‘antiquités archéologiques du Levant inédites ou méconnues. Baalim VII: Syria 76, 237-280.
Culican 1969: Culican W., 1969, Dea Tyria Gravida: The Australian Journal of Biblical Archaeology 1/2, 35-50; auch in: Culican W., 1986, Opera Selecta. From Tyre to Tartessos, Göteborg, 265-280.
Linder 1973a: Linder E., 1973a, A Cargo of Phoenico-Punic Figurines: Archaeology 26/3, 182-187.
Nunn 2000: Nunn A., 2000, Der figürliche Motivschatz Phöniziens, Syriens und Transjordaniens vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. (OBO.SA 18), Freiburg Schweiz/Göttingen.
Bibliographie: Genoud 1998: 36f; Postkarte BOM 2000.9; Keel 2003a: Nr. II:25; Keel/Schroer 2004: Nr. 199; Ramseyer et al. 2004: Nr. 035; Keel et al. 2007: 74, Nr. 51; Keel 2008: 101, Nr. 121.
Genoud 1998: Genoud S., 1998, Oeuvres d’art & architecture de l’Université de Fribourg. Kunstwerke & Architektur der Universität Freiburg, Freiburg.
Keel 2003a: Keel O., 2003a, Weibliche Idole aus Vorderasien vom Neolithikum bis in die Perserzeit, in: Hahn S./Roll C./Steiner P.B., Hg., Madonna. Das Bild der Muttergottes, Lindenberg, 88-92, 126-146.
Keel 2008: Keel O., 2008, Gott weiblich. Eine verborgene Seite des biblischen Gottes, Gütersloh.
Keel et al. 2007: Keel O. et al., 2007, Bibel+Orient im Original. 72 Einsichten in die Sammlungen der Universität Freiburg Schweiz.
Keel/Schroer 2004: Keel O./Schroer S., 2004, ²2006, ³2010, Eva - Mutter alles Lebendigen. Frauen- und Göttinnenidole aus dem Alten Orient, Freiburg Schweiz.
Postkarte BOM 2000.9: Postkarte, BOM 2000.9, Projekt BIBEL+ORIENT Museum
Ramseyer et al. 2004: Ramseyer D. et al., 2004, Femmes déesses. Exposition réalisée par le Laténium du 8 mai au 31 décembre 2004, Neuchâtel.
DatensatzID: 887
Permanenter Link:
https://bodo.unifr.ch/bodo/id/ 887
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