Objekt:

 Rollsiegel, Hämatit (§ 357-360), 22,4 x 11,2 mm.

Datierung:

 Altbabylonische Zeit (1850-1800 oder 1850-1750).

Herkunft:

 Nordbabylonien.

Sammlung:

 Fribourg, Sammlungen BIBEL+ORIENT, VR 1996.2.

Darstellung:

 Adorations-/Opferszene vor Šamaš, vierfigurig: nackte Frau en face, König im vorn offenen Fransen-/Togagewand mit Opfertier vor Šamaš in aufsteigender Pose im Faltenschlitzrock und mit Säge in der vorgestreckten Rechten, gefolgt von fürbittender Göttin mit langem Rückenband; im oberen Bildfeld links und rechts der nackten Frau nach oben offenes Omegazeichen und achtstrahliger Stern, zwischen König und Šamaš drei Kugeln; vor der nackten Frau links hockender Löwe/Hund mit offenem Maul und mit verkürztem Krummstab (?) auf Kopf [ergänzter Text von Keel 2008: 44: Die schematisch dargestellte nackte Frau in ihrer stereotypen Ausprägung: Frontalität, die Arme angewinkelt und auf Taillehöhe zusammengelegt, die Füße nach außen gedreht, das Gesicht von zwei seitlichen Locken eingerahmt, steht isoliert im Kontext. Sie taucht zuerst am Ende des 19. Jh. v. Chr. in der altbabylonischen Siegelkunst auf. Sie ist wahrscheinlich aus Syrien übernommen. Aus zeitgenössischen Texten wissen wir, dass ihrer Potenz nackter Weiblichkeit versöhnende und fürbittende Wirkung zugeschrieben und sie als nackte Lama-Göttin bezeichnet wurde].

Diskussion:

 Der übliche Platz der fürbittenden Göttin ist hinter dem Beter bzw. Opfertierträger und nicht hinter der Gottheit. Die oben erwähnte Parallele mit nackter Frau ist zugleich der bis anhin älteste festdatierte Beleg für diese Figur: ca. 1829; obwohl der Opfertierträger vor Šamaš schon zu Anfang des 19. Jh. in Sippar beliebt ist, schliesst die Figur der nackten Frau eine Herstellung vor der zweiten Hälfte des Jahrhunderts aus. Der hockende Hund/Löwe passt gut ins 19. Jh. Für das Omegasymbol allgemein und speziell, seine Deutung und Verbreitung auf mittelbronzezeitlichen Stempelsiegeln aus Anatolien, Nordsyrien und Palästina s. Keel 1989c: 39-87 und Keel 1995c: 99-101, vgl. auch Keel-Leu/Teissier 2004: Nr. 218. Nach Colbow 1995: 185 können die drei Kugeln möglicherweise zu den Astralsymbolen gerechnet werden; sie kommen selten vor. Zu weiteren Beispielen für den hockenden Hund mit Krummstab auf dem Kopf s. Collon 1986a: 42, die einschlägige Siegel vor 1800 datieren möchte. [Ergänzter Text von Keel/Schroer 2004: Nr. 50: Zum altbabylonischen Bildrepertoire der Rollsiegel gehört neu die nackte Frau in ihrer stereotypen Ausprägung: Frontalität, die Arme angewinkelt und auf Taillehöhe zusammengelegt, die Füße nach außen gedreht, das Gesicht von zwei seitlichen Locken eingerahmt. Sie erscheint zumeist auf grob und linear geschnittenen Siegeln wahrscheinlich nördlicher Herkunft (Collon 1986a: 132; Keel-Leu/Teissier 2004: Nr. 131.133). Auf qualitätsvolleren Stücken wie diesem (vgl. auch Keel-Leu/Teissier 2004: Nr. 122) ist zu erkennen, dass die Gestalt durch ihre schematische, ja chiffreähnliche Zeichnung (Gesicht!) in einen gewissen Kontrast zum Rest treten kann; da dies öfter der Fall ist, muss man wohl nicht unbedingt an eine nachträgliche Einfügung denken. Der bis anhin früheste festdatierte Beleg der nackten Frau ist die unter «Parallelen» genannte Siegelabrollung aus dem Jahr 2 des Apil-Sin (ca. 1829 v. Chr.). Nach einer Blüte von ca. 80-100 Jahren verschwindet die nackte Göttin während der Regierungszeit Samsu-ilunas langsam aus dem Bildfeld (Collon 1986a: 132; Blocher 1987: 217). Einen kurzen Überblick über das Motiv der nackten Frau, ihre nordwestliche Herkunft, ihre Bildträger und deren Verbreitung und über die verschiedenen Deutungsversuche gibt Uehlinger 1998b. Zu ihrem syrischen Pendant vgl. Keel-Leu/Teissier 2004: Nr. 331-335
Keel-Leu/Teissier 2004:
Nr. 331
Nr. 332
Nr. 333
Nr. 334
Nr. 335
.343-346. Die nackte Frau ist eine schillernde und entsprechend schwierig zu interpretierende Figur. Sie kann in gewissen Fällen Objekt oder, mit anbetender Armhaltung, auch Subjekt der Verehrung sein (Teissier 1984: 26; Buchanan 1966: Nr. 479; Porada 1948: Nr. 488.494), einmal wird sie gar als Göttin mit Hörnerkrone dargestellt (Klengel-Brandt 1989: Nr. 84 Sippar). In den meisten Fällen steht sie aber, an der Handlung scheinbar unbeteiligt, im Feld. So schließen Frontalität, symmetrische Armhaltung und Platzierung einen szenischen Bezug wie im vorliegenden Fall häufig aus. Manche Indizien legen nahe, sie als Göttin zu sehen (vgl. Winter 1987: 155-186). Der babylonische König Ammi-ditana (ca. 1683-1647 v. Chr.) erwähnt für das 29. Jahr seiner Herrschaft die Herstellung von Figuren nackter Lama-Göttinnen aus Gold und kostbaren Steinen, die er der Inanna weihte und die für sein Leben beten sollten (Wiggermann 1998: 48f). Der Text scheint nicht nur den göttlichen Status der nackten Frau auf altbabylonischen Siegeln zu bestätigen, sondern sogar einen Namen, mindestens einen Gattungsnamen, zu liefern. Die nackte Göttin (Keel/Schroer 2004: Nr. 50-53
Keel/Schroer 2004:
Nr. 50
Nr. 51
Nr. 52
Nr. 53
) wurde, wie die bekannten Lama-Göttinnen mit Falbelgewand und Hörnerkrone (Keel/Schroer 2004: Nr. 49-50, 54-55, 65) als Schutz- und Fürbittegöttin betrachtet. Frans Wiggermann vermutet, nackte Göttinnen hätten sumerisch tesch, akkadisch baschtu geheißen. Der schillernde Ausdruck wurde schon mit «Würde, Stolz, gutes Aussehen, Scham-Schande, Lebenskraft, Potenz, Aufblühen» wiedergegeben. Wiggermanns These basiert auf einem altassyrischen Weihegegenstand in Form des weiblichen Geschlechts, das in der Inschrift als tesch bezeichnet wird (Wiggermann 1998: 46.49; vgl. Keel/Schroer 2004: Fig. 50a). Das Geschlecht kann als pars pro toto für die nackte Göttin stehen. In diesem Falle wären die Figuren weniger als Darstellungen einer individuellen Gottheit verstanden, sondern als Ausdruck weiblicher Mächtigkeit. Zainab Bahrani bestreitet hingegen den göttlichen Status solcher Figuren rundweg: «Der nackte weibliche Körper war (...) ein erotisch aufgeladener Topos, an dem sich der männliche Blick kristallisierte.» Sie gesteht immerhin zu, dass er als Teil anderer Kompositionen eine mythische oder religiöse Bedeutung haben mochte, aber auch dann «verkörperte er ideale weibliche Sexualität als Objekt (implizit) männlichen Beobachtens und Begehrens» (Bahrani 2001: 133; vgl. Bahrani 2001: 88). Die eine Interpretation braucht die andere nicht auszuschließen. Der Assyrerkönig Assur-bel-kala (11. Jh. v. Chr.) hat in verschiedenen Städten fast lebensgroße Skulpturen der nackten Göttin aufstellen lassen. Die in Ninive stand außerhalb des Ischtartempels (Orthmann 1975: Abb. 170; Bahrani 2001: pl. 19). Die Inschrift nennt als Zweck der Statue u. a. «(sexuelle) Erregung» (Wiggermann 1998: 48). Diese galt offensichtlich als etwas Positives und Wünschenswertes und als Teil der Wohltaten, die man von der nackten Göttin erwartete. Bahrani macht darauf aufmerksam, dass in Umzeichnungen die Schamhaare, die die assyrische Statue deutlich darstellt, fehlen (Bahrani 2001: 89; z. B. Winter 1987: Abb. 149). Sie verweist auf zahlreiche mesopotamische Texte, die weibliche Nacktheit und Genitalien ohne Hemmungen als Quelle der Lust beschreiben (Bahrani 2001: 53-55 und 89f). Die Griechen hingegen haben, nachdem Praxiteles im 4. Jh. v. Chr. mit der knidischen Aphrodite die unabsehbar lange Reihe nackter Aphroditen eröffnet hatte, diese im Anschluss an ihn konsequent ohne jede Andeutung von Schamhaaren oder Geschlecht dargestellt. Der männliche Phallus wurde liebevoll realistisch ausgeführt. (Bahrani 2001: 71-79). Das weibliche Geschlecht wurde in der griechischen Sprache mit verächtlichen Bezeichnungen wie «Schwein» bedacht (Golden 1988) und in der Darstellung der nackten Aphrodite radikal ignoriert. Aber ob mit oder ohne realistisch dargestelltem Geschlecht ist der nackte weibliche Körper immer wieder als tremendum et fascinosum wahrgenommen worden, wie z. B. bei Wilhelm Busch: «Jedoch ein Weib, ein unverhülltes Weib – Da wird’s dir doch ganz anders alter Junge. Bewundrung zieht sich durch den ganzen Leib und greift mit Wonneschreck nach Herz und Lunge.» «Wonneschreck» ist eine elegante Wortbildung, die die gleichzeitige Erfahrung des tremendum et fascinosum treffend beschreibt. Eine vergleichbare Erfahrung drückt sich in der Eigenart einer Anzahl von Schweizer Dialekten aus, die die expressive Verstärkung eines Adjektivs entweder durch seine Kombination mit «Herrgott», z. B. «herrgottsfrüä» d. h. extrem früh oder «herrgottsschöin» d. h. extrem «schön», erreichen oder durch die Kombination mit «Hure» z. B. «huäräfrüä» oder «huäräschöin» oder «huäräguät» (Keel/Schroer 2004: Fig. 50b). Dies gilt auch, wenn sich das Wort nur volksetymologisch von «Hure», ursprünglich aber von «ungeheuer» ableitet.

Parallelen:

al-Gailani Werr 1988: Nr. 43:5; Blocher 1992: Nr. 77: drei Kugeln - Larsa (wohl aus Sippar stammend, Blocher 1992: 64), Warad-Sîn Jahr 6 ca. 1830; al-Gailani Werr 1988: Nr. 129:a-b, Taf. 18:2: drei Kugeln - Tall aḍ-D˚ibā˓ī, Importe aus der Region, grob 1. Hälfte 19. Jh.; al-Gailani Werr 1988: Nr. 25c: drei Kugeln - Tall Ḥarmal Level IV, 1. Hälfte 19. Jh.; al-Gailani Werr 1988: Taf. 42:5: drei Kugeln - Ur, Rīm-Sîn Jahr 17 und 33 ca. 1805 und 1789; Blocher 1992a: Nr. 185: gleiche Thema mit nackter Frau - Sippar, Apil-Sîn Jahr 2 (ca. 1829); Keel-Leu/Teissier 2004: Nr. 122: hockender Hund/Löwe; al-Gailani Werr 1980: Nr. 25: hockender Hund/Löwe, mit und ohne Krummstab auf dem Kopf - Sînmāgir von Isin ca. 1827-1817; Frankfort 1955: Nr. 958: mit Krummstab - Ishchali/Šaǧālī; Delaporte 1910: Nr. 240: oben offenes Omegasymbol; Collon 1986a: Nr. 224: oben offenes Omegasymboln, nachgeschnitten in typisch spätbabylonischer Manier; Buchanan 1981: Nr. 790: Omegazeichen und die drei Kugeln - Ḫammu-rāpi 1; Blocher 1992: 64: zu Blocher 1992: Nr. 77 Larsa Warad-Sîn Jahr 6 ca. 1830, wohl aus Sippar stammend.

Bibliographie:

Keel-Leu/Teissier 2004: 118f, Nr. 123; Keel/Schroer 2004: 96-98, Nr. 50; Keel 2008: 44, Nr. 37.

DatensatzID:

355

Permanenter Link:

  http://www.bible-orient-museum.ch/bodo/details.php?bomid=355